HEMA, also “historische europäische Kampfkünste”, ist ein weitgefasster Begriff — er kann grundsätzlich jeden Fecht- oder Kampfstil Europas umfassen, solange ein Schwerpunkt auf der Rekonstruktion eines Stils, wie er während einer benennbaren historischen Zeitstufe bestand,liegt.
In der Praxis fallen darunter aber mit grossem Schwergewicht die Fechtstile des Spätmittelalters und der Renaissance. Frühere Stile, also früheres Mittelalter und Antike (z.B. Gladiatorenkampf, Pankration, usw.), werden auch praktiziert, hier ist aber die Rekonstruktion sehr viel unsicherer, da man sich nicht auf zeitgenössische Anleitungen berufen kann. Eine wichtige Rolle kommt deshalb der Handschrift I.33 zu, datiert auf zwischen etwa 1340 und 1360: Sie ist die älteste Fechthandschrift überhaupt, und mit ihr beginnt das Studium historischer Fechtstile, das sich auf Primärquellen berufen kann. Auf der anderen Seite werden auch jüngere Stile gepflegt, etwa aus der Frühmoderne (v.a. Rapier und Säbel), gelegentlich werden auch moderne Sachen dazugezählt, etwa Bartitsu oder Canne de combat.
Historisches Fechten
Die “deutsche Tradition” des historischen Fechtens beruft sich auf Johannes Liechtenauer , der Fechtmeister, der in der zweiten Hälfte des 14. Jh. den Stil des ungepanzerten Fechtens (“Blossfechten”) mit dem zweihändig geführten Schwert (“im langen Schwert”) eingeführt oder doch standardisiert hat, der später für die “deutsche Schule” ikonisch wird (auch die italienische Schule kennt um 1400 einen nahe verwandten Stil, der jedoch nach 1500 bald durch das Rapierfechten verdrängt wird). In Deutschland wird zwar das “italienische” Rapierfechten nach der Reformation bald auch die vorherrschende Mode, aber das “alte” Fechten, wie es von den noch im 15. Jh. etablierten Fechter-Gilden praktiziert wird, zu einer Art Nationalsport. Ikonisch wird dies durch die riesigen Bidenhänder der Landsknechte bzw. Doppelsöldner in der ersten Hälfte des 16. Jh. illustriert.
In der zweiten Hälfte des 16. Jh. lebt diese Tradition aber nur noch in sogenannten “Fechtschulen” weiter (“Schule” hat hier eine Bedeutung die nahe bei “Sport” liegt, schola = Musse, Unterhaltung, Freizeit; eine “Fechtschule” ist also nicht der Ort, wo Fechten gelernt oder unterrichtet wird, sondern ein Anlass, sondern eine Zusammenkunft von Fechtern, um sich in sportlichem Wettkampf zu messen). Der Fechtstil in diesen Fechtschulen ist die direkte Weiterentwicklung des Liechtenauerschen Fechtens und er benutzt immer noch dieselben technischen Begriffe; der Stil hat sich inhaltlich aber im Verlauf der 200 Jahre, die seit Liechtenauer vergangen sind wesentlich verändert, nämlich “versportlicht”; während Liechtenauer ein Fechten für den ernsten Zweikampf unterrichtete, sollen die Regeln der Fechtschule ernsthafte Verletzungen so weit wie möglich vermeiden (und zwar bei Fechten ohne nennenswerte Schutzausrüstung).
Das letzte Fechtbuch, das die deutsche Schule darstellt, erscheint 1612 (Jacob Sutor). Aber die Fechtschulen bestehen während des 17. Jh. und vereinzelt auch weit ins 18. Jh. weiter, so dass die letzten Ausläufer der Liechtenauerschen Tradition erst mit den Franzosenkriegen 1798 ganz aussterben, nur gerade 50 Jahre vor der ersten antiquarischen Edition von Sutors Fechtbuch durch Scheible (1849). Noch viel deutlicher ist die Kontinuität des italienischen Rapierfechtens, das sich im 16. Jh. in Frankreich und im 17. Jh. in Spanien beheimatet, und im 18. Jh. nahtlos in Duellfechten mit dem Degen (smallsword) aufgeht, das wiederum als Grundlage für das moderne Sportfechten gedient hat.
HEMA-Revival seit 1990
Das gegenwärtige “HEMA revival” beginnt um das Jahr 2000; jedenfalls datiert dahin das Kürzel “HEMA” = “historical European martial arts”, und seit den frühen und mittleren Nullerjahren entstanden eine wachsende Zahl von internationalen Anlässen und Turnieren. Namentlich wurde 2001 HEMAC gegründet, eine “Koalition” von was damals noch verstreut wirkende Pioniere waren, die sich von da an jährlich in Dijon trafen.
Die Vorgeschichte des Revivals reicht natürlich weiter zurück, nämlich bis in die frühen 1990er; 1992 Gründung von Hank Reinhardts HACA, 1994 Dawn Duellists in Edinburgh, 1999 Ochs in München). Vor 1990 wird es aber schwierig, Vorläufer von HEMA zu finden. Bis in die 1980er scheint das Feld klar aufgeteilt in
- Bühnenfechten, eine eigene Tradition, die seit den 1920ern auch von Hollywood mitgestaltet wurde (Fairbanks als Zorro, 1920; Flynn als Robin Hood, 1938, …)
- “mittelalterliches” Schaufechten, in den USA namentlich durch SCA (seit 1966), in Mitteleuropa (Tschechoslowakien) seit 1984 Peter Koza (letzterer stellt einen Sonderfall dar insofern er eine fliessende “Historisierung” durchgemacht hat, er gründete 1992 Magisterium, 1999 Gladiatores, Schulen, die sich inzwischen nahtlos unter “HEMA” einreihen liessen).
- rein akademische Behandlungen der Fechthandschriften (Martin Wierschin, Meister Johann Liechtenauers Kunst des Fechtens, 1965; Hans-Peter Hils, Meister Johann Liechtenauers Kunst des langen Schwertes, 1985; Rainer Welle Der Ringkampf als adelige Kunst im 15. und 16.
Jahrhundert, 1993),
Nichtakademische (im Sinn von fundierte, aber an ein allgemeines Publikum gerichtete) Publikationen über historisches Fechten erscheinen auch mit den ausgehenden 1990er Jahren. Ein Pionier ist hier sicher John Clemens (eine kontroverse Einzelmaske der HEMA-Gründerzeit) mit seinen Renaissance Swordsmanship (1997) und Medieval Swordsmanship (1998), gefolgt von Sydney Anglo, The Martial Arts of Renaissance Europe (2000), Christian Henry Tobler, Secrets of German Medieval Swordsmanship (2002). Seither ist eine grosse Zahl von Publikationen zum Thema erschienen, sowohl Editionen von einzelnen Fechthandschriften als auch praktische Anleitungen zur Praxis und Darstellungen für ein allgemeines Publikum.
Dieses “HEMA Revival” seit etwa 1990 bzw. 2000 stellt aber nur eine zweite, wenn nicht gar dritte, Welle der “Wiederentdeckung” der historischen Fechtstile dar.
Vorgänger im 19. Jh.
Bereits im 19. Jahrhundert wurden die alten Fechthandschriften studiert und z. T. ediert. 1838 hat Friedrich August Ukert unter den Merkwürdigkeiten der Herzoglichen öffentlichen Bibliothek zu Gotha recht ausführlich die Fechtbücher besprochen (Abhandlungen über den Gerichtskampf haben Talhofers Handschriften bereits im 18. Jh. besprochen; Ephraim Gerhard, De judicio duellico, 1711). Ukert geht v.a. auf Talhofers Fechtbücher ein, hat aber auch eine recht gute Beschreibung des Cod. Mbr. I. n. 115 (unser “I.33”). Jacob Sutors Fechtbuch von 1612 wurde von Johann Scheible 1849 herausgegeben als Jakob Sutor’s künstliches Fechtbuch zum Nutzen der Soldaten, Studenten und Turner. Gustav Hergesell edierte Talhoffers Fechtbuch. Gerichtliche und andere Zweikämpfe darstellend 1889. Karl Wasmannsdorff publizierte 1870 Sechs Fechtschulen (d. i. Schau- und Preisfechten) der Marxbrüder und Federfechter aus den Jahren 1573 bis 1614.
In Frankreich war Georges Dubois (1865-1934) aktiv als Boxtrainer, Fechtmeister und Kampfchoreograph an der opéra-comique. Dubois publizierte noch 1918 einen Essai sur le traité d’escrime de Saint-Didier (ein französisches Fechtbuch von 1573; auf Saint-Didier geht die im Sportfechten gebräuchliche Terminologie von Terz, Quart, Quint usw. zurück).
Im viktorianischen England waren Alfred Hutton (1839-1910) und Egerton Castle (1858-1920) aktiv in der Rekonstruktion alter Fechtstile. Diese frühen Rekonstruktionen sind auch interessant, weil sie noch stattfanden, bevor “Fechten” synonym wurde mit “Sportfechten” (Einführung als olympische Disziplin 1896). Hutton und Castle lernten von Meistern, die Fechten noch für den Ernstfall, nämlich im Duell oder militärisch, unterrichteten. Huttons einflussreichstes Buch, Cold Steel: A Practical Treatise on the Sabre (1889), behandelte Säbel-Stile aus dem 18. Jh. Huttons Interesse war stark militärisch geprägt, er publizierte auch mehrere Bücher über Bayonettfechten, er verfolgte aber auch rein “antiquarische” Interessen, 1892 publizierte er Old Swordplay (Stile des 16. – 18. Jh.), 1895 Notes on Ancient Fence (16. Jh.) und 1901 The Sword and the Centuries. Castle war publizstisch weniger aktiv (dafür war er auch im damals jungen olympischen Fechten aktiv; daneben schrieb er Romane mit seiner Frau); von ihm stammt Schools and Masters of Fencing : From the Middle Ages to the Eighteenth Century (1895). Hutton und Castle arbeiteten in den 1890ern zusammen und veranstalteten eine Reihe von öffentlichen Demonstrationen. 1891 liest Castle einen Vortrag “The Story of Swordsmanship” kombiniert mit einer Fechtdemonstration durch Hutton für den Prince of Wales (den späteren Edward VII).
Die Wiederentdeckung von “HEMA” seit 1990 schliesst inhaltlich direkt an Hutton und Castle an. Dazwischen liegt eine Zeitspanne von 80 Jahren, während derer historisches Fechten so gut wie nicht praktiziert wurde. Die Ursache dafür liegt natürlich primär in den Weltkriegen, und dem Ende von Duellkultur und militärischen Schwertern nach 1918. Zwischen Castles Tod und der Gründung der HEMAC liegen immerhin zwanzig Olympiaden, während derer “Fechten” immer mehr zum Synonym für “olympisches Sportfechten” wurde. Damit soll nun aber nicht suggeriert werden, dass “Sportfechten” erst seit 1900 bestehe, oder die “Duellkultur” erst nach dem Ersten Weltkrieg verblasste, die Geschichte ist komplexer. Zunächst erreichte die “Duellkultur” ihren ungesunden Höhepunkt im 18. Jh.; in frühen 19. Jh. wurde der Degen zunehmend von der Pistole als Duellwaffe abgelöst, und gleichzeitig wurde das Duell überhaupt immer mehr als barbarisches Ritual geächtet (Nach 1815 fanden Duelle meist nur noch zwischen hitzköpfigen Offizieren oder Studenten statt; unter Studenten überlebte in Deutschland eine gewissermassen fossilisierte Duellkultur im Mensurfechten, das sich allerdings nach 1848 auch stark versportlichte).
“Altes” Fechten seit dem 16. Jh.
Auf der anderen Seite finden wir in unseren frühesten Fechthandschriften (aus dem späten 14. Jh.) die Unterscheidung zwischen Fechten “zu ernst” (also auf Leben und Tod, im Krieg oder Duell) und Fechten “zu schimpf” (also zum Spass, als Sport). Als sich die Fechtwaffen weiterentwickelten, namentlich mit der grossen Popularität des “italienischen” Rapiers seit dem mittleren 16. Jh., wurden auch bereits die “alten” Fechtstile aus rein antiquarischem Interesse weitergeführt. In diesem Sinn beginnt “HEMA” als Studium alter Fechtstile bereits in der ersten Hälfte des 16. Jh., gleichzeitig mit dem Erscheinen der ersten gedruckten Fechtbücher.
1531 erscheint in Frankfurt ein Buch mit dem Titel Der Altenn Fechter anfengliche Kunst (also etwa “Historisches Fechten für Anfänger”). Es handelt sich um eine Redaktion von der Ergrundung Ritterlicher Kunst der Fechterey von Andre Paurenfeyndt (gedruckt in Wien 1516 und vermutlich das erste gedruckte Fechtbuch der überhaupt). Dass nun von Alten Fechtern die Rede ist, zeigt, dass zu dieser Zeit die hauptsächlich unterrichtete Fechtkunst bereits das italienische Rapier betraf, und das Fechten mit dem zweihändigen Schwert, und überhaupt die Traditionen der deutschen Fechtgilden nur noch von antiquarischem Interesse war. Sehr deutlich wird das mit den Äusserungen von Paulus Hector Mair, der 1545 in der langatmigen Vorrede zu seinem Magnum Opus nicht müde wird, von den martialischen Tugenden der “alten Teutschen” zu schwärmen und den allgemeinen Sittenzerfall zu beklagen, dessen Ursache er natürlich in der Aufgabe der Übungen der einheimischen ritterlichen Künste sieht.
So ist denn die deutsche Schule des Fechtens seit der Reformationszeit eigentlich bereits “historisches Fechten”, das als Sport betrieben wird. Daneben bleibt aber das Rapier- und später das Säbelfechten durchaus auf den Ernstfall ausgerichtet. Dieses Element des Nebeneinanders von Sport und Ernst, kam dem Fechten insgesamt erst nach 1900 abhanden — Eine vergleichbare Situation haben wir heute etwa im Schiesssport oder im unbewaffneten Kampfsport. Es ist geradezu ein Definitionsmerkmal von Kampfsportarten oder “martial arts”, dass sie in einem Spannungsfeld von Sport (Wettkampf), Kunst (Körperbeherrschung) und Tauglichkeit für den Ernstfall (Selbstverteidigung) ausgeübt wird. Es ist das Sportfechten, dass einen Sonderfall darstellt, insofern es sich seit 1900 vom Charakter einer bewaffneten Kampfsportart wegbewegt hat und inzwischen einen rein athletischen Wettkampf darstellt.
Parallelen zu den asiatischen Kampfkünsten
Die von den historischen europäischen Kampfkünsten nach 1900 zurückgelassene Lücke wurde von den asiatischen (v. a. japanischen und chinesischen) Kampfkünsten gefüllt. Die japanischen Klassiker Judo, Karate, Aikido und Kendo entstanden im frühen 20. Jh. aus traditionellen Vorgänger-Traditionen und kamen nach 1950 nach Amerika und Europa. Die modernen chinesischen Kampfkünste entstanden etwas später, gefördert durch die Kuomintang seit 1928, und erreichten auch den Westen mit etwas Verzögerung, namentlich mit der Welle von Kung-Fu-Filmen aus Hong Kong während der 1970er. Während der 1950er, 1960er und 1970er stand “Kampfkunst” ganz im Zeichen von Ostasien. Auch dies nebenbei eine Wiederentdeckung, denn bereits die Viktorianer (und Edwardianer) waren fasziniert von “Japanese wrestling”; der Begriff “martial arts” selbst datiert auf 1909 und ist eine Lehnübersetzung von jap. budo.
Wurden bis in die 1980er die asiatischen Kampfkünste z. T. stark überhöht und mythologisiert (“Ninja craze”) und werden dann zunehmend einerseits ein Klischee der Popkultur und andererseis ein Sport wie jeder andere (Judo als olympischer Sport seit 1964). Eine Art Wendepunkt markiert für mich der Film Bloodsport von 1988: Hier ist es (nicht untypisch für die 1980er) fast nicht möglich zu entscheiden, ob die dargestellten Klischees noch “ernst” gemeint oder bereits als “camp” intendiert sind. Ähnliches gilt für die Geburt des Mainstream-Interesses an “Schwertkampf”- oder “Ritterkampf”-Darstellungen mit Filmen wie Excalibur (1981) oder Conan (1982). Mit dem Abklingen der Ostasien-Fixierung entstehen in den 1980ern neue, hybride Kampfstile (auch diese Entwicklung wurde schon viktorianisch durch Bartitsu antizipiert). Kikkubokushingu taucht als japanischer Anglizismus seit den 1960ern auf, aber den Mainstream erreicht Kickboxen 1993 mit der Gründung von K-1. Fast gleichzeitig entsteht “MMA” (als Begriff geprägt 1993 für UFC). Als nun HEMA in den 1990ern entsteht ging es weniger darum, dass eine völlig vergessene Kunst wiederentdeckt werden musste, denn die Bücher von Hutton und Castle standen die ganze Zeit in den Bibliotheken, aber es schient eine Art kritische Masse erreicht worden zu sein dafür, dass sich der Westen wieder für seine eigenen Traditionen erwärmen konnte.