Codex Wallerstein, Teil III
Eine Bilderhandschrift von c. 1420, nach 1512 mit zwei Fechtbüchern von etwa 1470 zusammengebunden.
Dieses Ms. wurde auch “Pseudo-Gladiatoria” genannt (weil es von Hils (1985, 1987) mit der sog. “Gladiatoria-Gruppe” (Germ.Quart.16/KK5013), Kopien eines “nicht-Liechtenauerschen” Fechtbuches über Harnischkampf aus den 1430ern, zusammengestellt wurde). “Pseudo-” da zwar Ähnlichkeiten der gezeigten Techniken bestehen, die aber ausreichend durch Zeitgleichheit erklärbar sind, ohne dass die “Wallerstein” Abbildungen in direktem Zusammenhang mit “Gladiatoria” stehen müssen (ein wichtiges Indiz für einen solchen Zusammenhang wäre die Abfolge der Techniken, aber die wurde in unserem Ms. völlig durcheinandergebracht); jedenfalls taucht diese Ansicht ab ca. 2011 in Online-Diskussionen auf (Ich bin nicht sicher, aber sie könnte ursprünglich von Dierk Hagedorn stammen, im Zusammenhang mit seiner Gladiatoria-Transkription von 2009).
Die Zeichnungen wurden zudem mit Illustrationen auf Spielkarten aus derselben Zeit verglichen, allerdings geht Leng (KdiH 4/2 2008, 38.9.1) nicht mehr darauf ein; vielmehr unterscheidet er drei Zeichner (Teile Langschwert+Ringen, Harnischfechten, Gerichtskampf): Kämpferpaare in unterschiedlichen Stellungen auf Rasengrund von drei Zeichnern, 76r-80v, 98v-102v und 109r(?) lebendige, mit feinen Gesichtszeichnungen, dünnem Federstrich und schattierter Kolorierung in kräftigen Farben gezeichnete Figuren; 81r-95v und 103-108r grobe, statisch wirkende Umrisse mit flächiger Füllung in blassen Farben; 96r-98v kräftig kolorierte Kämpferpaare mit stereotypen Zügen in Anklängen an den weichen Stil.
Inhalt:
- fol. 1r Zeichnung eines Fechters mit verschiedenen Waffen
- foll. 1v-2r Zeichnung eines Gerichtskampfs mit Zuschauern
- foll. 76-80, 101-102: langes Schwert
- foll. 81-95, 103-108r: Harnischkampf
- foll. 96-98: Gerichtskampf nach schwäbischem und fränkischem Recht
- foll. 98v-100: Ringen
- fol. 108v: eine Darstellung einer Hochzeitszeremonie
So wichtig Teil III auch ist im Hinblick auf sein frühes Datum, es handelt sich leider um eine reine Bilderhandschrift ohne Text. Es wäre dies unser zweitältestes deutsches Zeugnis zum Fechten mit dem langen Schwert nach GNM 3227a; allerdings ist letztere Handschrift das älteste Zeugnis, das sich auf Johannes Liechtenauer beruft (Quellen der “Gesellschaft Liechenauers” erscheinen dann gegen 50 Jahre später, in den 1440ern), während die Bilder der vorliegenden Hs. nicht offensichtlich mit Liechtenauers Schule zusammenhängen.
Sie enthält 39 Abbildungen zu Harnischfechten “im kurzen Schwert” gegenüber 14 Abbildungen zu Blossfechten “im langen Schwert”; schon dies scheint mir ihr frühes Datum zu illustrieren; die Popularisierung (wenn nicht überhaupt Erfindung) von “Blossfechten im langen Schwert” war Liechtenauers Werk. Es sind mir kaum vergleichbare Abbildungen mit vergleichbarem Alter bekannt, eine Ausnahme sind die Illustrationen zum Rosengarten zu Worms (CPG 359) von c. 1420. Hier haben wir eine merkwürdige Kombination von “Harnischfechten im langen Schwert”, also gepanzerte Kämpfer, die das Schwert zweihändig am Gehilz führen (sich dabei aber blutige Verletzungen zufügen, die einem eher ungepanzerten Kampf entsprächen?). Dafür gibt es Anzeichen auf einen Einfluss von Flos Duellatorum, das seinerseits auf Studien Fiores in Deutschland während der 1370er beruht; während der 1370er dürfte Liechtenauer aktiv gewesen sein, und Fiore erwähnt auch einen “Johannes aus Schwaben” als seinen einflussreichsten Lehrmeister (vgl. D. M. Cvet 2008) ; das ist kein Beweis, jeder Zweite hiess zu jener Zeit Johannes, aber die Tatsache, dass Liechtenauer mit Abstand am einflussreichsten in Deutschland wurde, und gleichzeitig ein Johannes als einziger von Fiore namentlich erwähnt wird, zusammen mit der zeitlichen Übereinstimmung und überhaupt der Innovation “Blossfechten im langen Schwert” zu genau dieser Zeit macht die Sache schon plausibel).
Titelseite
1r
Leng: Einleitungsbild eines bärtigen Fechtkämpfers mit über dem Haupt schwebender überdimensionaler Krone, flankiert von Lanzen und Hellebarden, vor dem Körper sechs gekreuzte Lang- und Kurzschwerter (hier und für die Ringszenen teilweise Analogien zur ‘Flos duellatorum’-Gruppe, vgl. Novati 1902)
Was Leng nicht aufgefallen ist, ist der Zirkel, den der Fechter auf den Schultern trägt. Zusammen mit der überdimensionalen Krone ist damit der Bezug zu Flos duellatorum eindeutig;
Flos duellatorum von Fiore dei Liberi haben wir in vier Kopien, alle aus dem frühen 15. Jh. (vor 1409). Alle Kopien haben das sette spade Diagramm, eine Anordnung von sieben Schwertern um eine Person, zusätzlich umrahmt von vier Tieren, die die vier wichtigsten Eigenschaften eines Fechters darstellen, ein Luchs für prudentia, ein Löwe für audatia, ein Tiger für celeritas und ein Elefant für fortitudo. Die vier Tiere tragen zusätzlich vier Symbole, der Luchs einen Zirkel, der Löwe einen Schild, der Tiger einen Pfeil und der Elefant einen Turm. Daher ist im sette spade Diagramm der Zirkel über dem Kopf der dargestellten Person gezeichnet. Im MS Ludwig XV 13 ist der Zirkel sehr klein gezeichenet, dafür MS Pisani-Dossi ist der Zirkel etwas grösser gezeichnett, dafür schwebt über dem Kopf der Person eine goldene Krone. In MS Ludwig XV 13 fehlt die Krone, dafür ist der Zirkel etwas grösser. Die Elemente Zirkel und Krone sind in diesem Bild eindeutig nur durch Übernahme von Flos zu erklären, der Zirkel hat aber seinen ursprünglichen Kontext verloren und wurde in das Bild integriert. Auch die sieben Schwerter haben ihren ursprünglichen Sinn verloren und werden hier zu einer Sammlung aller Waffen, die von einem Fechter geübt werden (im sette spade Diagramm bezeichnen die Schwerter nicht einzelne Waffen, sondern Angriffslinien; in Ludwig XV 13 sind sie unbeschriftet, aber in Pisani-Dossi bezeichnen sie: oben links posta dominarum dextra / posta fenestrarum dextra, oben rechts posta dominarum sinistra / posta fenestrarum sinistra
links/rechts posta longha / posta brevis, unten links tota posta ferra, unten mitte media posta ferra, unten rechts dens apri). Der Zeichner wurde also eindeutig von Flos beeinflusst, ob direkt oder über ein bereits “entfremdetes” Bindeglied wissen wir nicht, jedenfalls stellt er einen Teil der sette spade Ikonographie in seinen eigenen, heimischen Kontext; Zirkel und Krone bleiben etwas abstrakte Fremdkörper, aber aus dem Sieben-Schwerter-Diagramm wird ein bärtiger Fechter umrahmt von seinen Waffen, im einzelnen: zwei Schwerter, zwei Rondelldolche, zwei Stangen (waagrecht unter seinen Armen bzw. in seinen Händen, drei Stangenwaffen (links eine Hellebarde, rechts eine Axt/Luzernerhammer und ein Speer) und zu seinen Füssen ein Messer und ein einhändiges Schwert mit Buckler.
1v/2r
Leng: doppelseitige Szene eines Kampfgerichts, links und rechs die aus zwei Zelten tretenden bewaffneten Kämpfer, am unteren Bildrand vor Steckenzaun und Schranken zwei tuchbedeckte Katafalke, in der oberen Bildhälfte links Zuschauer auf Tribünen, rechts thronender Richter mit Schwert, neben ihm ein Narr
Die Kämpfer sind mit langem Schwert und Dolch bewaffnet, und tragen nur Wams und Hose (weder Rüstung noch die später üblichen “Gottesurteils-Pyjamas”). Auf der linken Seite zusätzlich drei Bewaffnete in Rüstung unter der Zuschauertribüne. Der thronende Richter mit Schwert erinnert stark an die “sitzender Fechtmeister”-Darstellungen in späteren Fechtbüchern.
langes Schwert
76r |
76v |
77r |
77v |
78r |
78v |
79r |
79v |
80r |
80v |
101r |
101v |
102r |
102v |
Die 14 Abbildungen zum Blossfechten in Teil II des “Codex Wallerstein” gruppieren sich in sieben Stücke (je Vor- und Rückseite eines folii), wie folgt:
Viermal Zufechten aus Huten, dabei sind teilweise “Liechtenauersche” Huten zu erkennen:
fol. 76: Zufechten aus einer rechten Nebenhut in ein unteres Band.
fol. 77: Zufechten aus einer linken Nebenhut und einer Art erhobenem Langort in ein oberes Band; der Fechter aus dem oberen Langort scheint in einer “Schielhau”-Position zu enden
fol. 78: Zufechten aus den Huten vom Tag und Ochs (die Hut vom Tag in ihrer frühen Form “Schwert hinter dem Rücken”); hier endet das Zufechten in einem Händedrücken (bzw. Hieb auf die Unterarme) zugunsten des Fechters aus dem Ochs.
fol. 79: Zufechten aus einer rechten oberen und einer linken unteren Hut in ein oberes Band.
Foll. 80, 100 und 102 zeigen “Infight”, also Situationen, wo aus einem Band entweder eine Entwaffnung oder ein Ringen am Schwert folgt.
fol. 80r zeigt ein Band, wie es aus dem Zufechten von fol. 78r hätte entstehen können, wenn der linke Fechter schneller gewesen wäre.
fol. 80v zeigt ausnahmsweise zwei Fechterpaare, ein Ringen am Schwert und ein mit 80r vergleichbares (aber seitenverkehrtes) Band. Auf diese Seite schrieb Paulus Hector Mair der sent im langen schwert stendt 11 bar, also in der vorliegenden Paginierung bisher 11 Abbildungen von Blossfechtern (inkl. die zwei Paare auf dieser Seite).
Foll. 101 und 102 behandeln Ringen am Schwert (auf fol. 101r schrieb Paulus Hector Mair 5 bar stent im ringen); zweifellos waren diese zwei Seiten ursprünglich zusammenhängend mit fol. 80 (und auch mit den vier foll. zum Zufechten) angeordnet. In fol. 101 führt ein Band, das ungefähr einem Scheitelhau gegen eine Krone entspricht zu einer komplexen Aktion (…); fol. 102r zeigt zwei Stände Ringen am Schwert und fol. 102v zeigt eine Entwaffnung.
Es wäre übertrieben, aus diesen 14 Seiten ein ganzes Fechtsystem abstrahieren zu wollen, aber zusammen mit den Bildern von CPG 359 ergibt sich schon so etwas wie ein Eindruck von “Blossfechen um 1420”. Bemerkenswert ist (wenn auch nur ex silentio) dass die Abbildungen das Zufechten aus Huten in ein Band behandeln, und dann wie aus dem Band ein Ringen aus der nahen Distanz entsteht, während der “Normalfall” eines Treffers aus der mittleren Distanz gar nicht vorkommt (ev. mit Ausnahme von 78v).
Die Leute haben Abbildungen aus Paulus Hector Mair identifiziert, die scheinbar nach der Vorlage dieser Bilder entstanden. Das ist interessant für das Vorgehen von PHM, hat aber kaum Erklärungsgewalt für die Bilder von 1420, die PHM ja genauso kommentarlos vorlagen wie uns. Im Einzelnen:
76: PHM Wien 33rv: Der Wechselhaw von baiden seitten / Zway Leger daraus die Einkiren gond
77: PHM Wien 37r Ein leger aus dem Pflug gegen dem Oberhaw / 23v Zway winden mit sambt Iren örtern
78: PHM Wien 22r: Der zorenhaw gögen dem Ort / 27r Einn annders nachraisen.
79r: PHM Wien 55r: Oben abgenommen vnd zü der Plösse gehawen.
80v: PHM Wien 55v: Ainn Reissen mit ainem schwert nemen
101: PHM Wien 57r: Einn rechter vnnd ain Linncker Ort / 65v Ainn verkerer mit ainnem Schnidt.
102: PHM Wien 66v: Einn schnit mit ainnem Wurff. 66r: Ainn wurff mit ainnem Ort. / 67r Ainn schwertnemen mit ainem Schnidt.
Harnischfechten (“Pseudo-Gladiatoria”)
Die Abbildungen zum Harnischfechten (81-91, 93-95, 103-108) scheinen dann gar keiner logischen Abfolge mehr zu gehorchen; man könnte versuchen, eine solche herzustellen, müsste dazu aber Bilder auf Vor- und Rückseite desselben fol. trennen; die letzte Abbildung auf fol. 108r ist gefolgt von der “Heiratsszene”, und die stärkere Abnutzung der Seite scheint auch klar zu zeigen, dass fol. 108 bereits in der ursprünglichen Bindung die letzte Seite war.
Die Harnischkämpfer sind bewaffnet mit Schild, Speer, Schwert und Dolch, und verlieren sukzessive ihre Waffen, bis sie ins unbewaffnete Ringen kommen (wie dies auch aus Darstellungen in späteren Fechtbüchern vertraut ist).
Voll bewaffnet sind sie fol. 82v, noch, 105v, mit Speer aber ohne Schild 88v; noch ein Speer aber beide Schilde 107r, nur Dolch 83v, 86, 87, 88r, 89r, (94v) 95r, 103r, ohne Waffen 93r. Scheinbare “Endstücke” sind zu sehen: 81r (Schlag mit dem Pommel ins Visier des liegenden Gegners) und 103r (Stich mit dem Dolch ins Visier).
109v
Leng: Hochzeitsszene, oben das einander zugewandte festlich gekleidete Brautpaar mit Spruchbändern ich nim dich und ia ia liber löffel ia, darunter zwei Zeugen.