Mit der fortschreitenden “Tiefenerschliessung” der Handschriftenbestände in Bibliotheken kommen in den letzten Jahren einige neuen Quellen zum Vorschein, namentlich eine “Fechtlehre” auf einer Seite (fol. 123v) des Jenaer Ms. G. B. f. 18a (Tönnies & Klein-Ilbeck 2009). Dieses Manuskript datiert auf das 1. Viertel des 15. Jh. und ist damit praktisch gleich alt wie das bisher älteste Zeugnis für Liechtenauer in GNM 3227a. Erstaunlicherweise werden die Verse hier aber nicht Liechtenauer zugeschrieben sondern einem sonst völlig unbekannten “Meister H(einrich?) Beringo”[ref]oder Bernigois; für “Beringer”? Ein “Genitiv” Beringois ist so oder so suspekt.
Im 16. Jh. gibt die lateinische Form Beringus für van Beringen (d.i. Beringen in Belgien), aber das ergäbe einen Genitiv Beringi. Die Wahl der dritten Deklination deutet auf einen Nominativ Beringo. Das vorgestellte “H.” kann ich zwar nur als Vornamen (Henricus) deuten, aber auch Beringo könnte natürlich auf einen Vornamen wie Beringar deuten; allerdings habe ich auch dann keine Erklärung für die Form “Beringo” (einen mittelalterlichen Vornamen Beringo konnte ich bisher nicht finden; belegt sind u.a. Vornamen Bernico, Berning, Werinzo. Also vielleicht Bernigois als Genitiv eines Bernico, Bernigo? Die Form Bernico ist aber nur frühmittelalterlich;der moderne Name ist Bernicke, Börnicke. Im 17. Jh. erscheint Beringo als Nachname, Joseph Beringo 1693).[/ref], Sequitur bonus et verus modus dimicandi magistri H. Beringois pie memorie (nb. hier mit einer Formel als Verstorbener gekennzeichnet).
Es lohnt sich eine Gegenüberstellung der “Liechtenauerschen” Verse von Hs. 3227a mit den “Beringo”-Versen aus G. B. f. 18a; für letztere übernehme ich die Transkription von Jens Kleinau (2013), mit einigen eigenen Korrekturen.
Liechtenauer (GNM 3227a) | Beringo (G. B. f. 18a) |
Jung Ritter lere / got lip haben frawen io ere So wechst dein ere / Uebe ritterschaft und lere kunst dy dich zyret / und in krigen sere hofiret Ringent gut fesset / glefney sper swert unde messer menlich bederben / unde in andern henden vorterben Haw dreyn und hort dar / rawsche hin trif ader la farn das in dy weisen hassen dy man siet preisen Dorauf dich fosse alle ding haben lenge unde mosse |
Jung ritter lere / god lieb haben frauwen io ere ube ritterschaff unde lere / ding das dich cziret / und in krigen sere hoffiret Glebingen, sper swert und messer menlichen bederfen / und das in andirn handen vorderben Zcorn hawe krump twer / had schiler mid schiteler |
Der dir oberhawet / czornhaw ort deme drewet Und soltu auch io schreiten / eyme czu der rechten seiten wirt her is gewar / nym is oben ab / ane vaer [25v] Krump auf / behende / wirf deynen ort auf dy hende krump wer wol setczet mit schreten vil hewe letczet haw krump czu flechen / den meistern wiltu sie swechen Wen is klitzt oben / stant abe das wil ich loben krump nicht kurcz hawe / durchwechsel do mete schawe krump wer dich irret / der edele krig den vor virret Das her nicht vorwar / weis wo her sye ane var [27r] Twere benymet was von dem tage dar kuemet Twere mit der sterke / deyn arbeit do mete merke Twere czu dem pfluge / czu den ochsen herte gefuge Was sich wol tweret mit spruengen dem hew geferet [28v] Schil in dem oebern hawpte hende wiltu bedoebern [30r] Der scheitelere deyn antlitz ist ym gefere mit seinem karen / der broste vaste gewaren |
der krig wer obir dich hawed / zcorn hawe ort deme drawed Wyrt erß ge war / nymß oben abe ane var Biß sterker wedder / wint stich sicht erß nymß nider Czuch de snid oben uß / obir haybt so geyt der krieg uß. krump nicht korcsz hawe / der wechsel damede schauw krump uf behende / wyrf den ord of dye hende krump wer wol schezit / med schreten vel hauwe letzit krump wer dich irred / der edel krieg dich vor wirret Twere benymbt / was von himel her abe kumet Twere zcu dem orte / nym den hals ane fortte Schil in dem obern / iß daz du wylt be dobern Der scheyteler myt sinen kere / deme antlitze ist gar gewere |
Irschrikstu gerne / keyn fechten nymmer lerne Vor noch dy czwey dink syn allen kunsten eyn orsprink [23r] Indes und vor noch / ane hurt deme krige sey nicht goch Wes der krig remet / oben / neder wirt her beschemet [18v] Hoer was do slecht ist ficht nicht oben link zo du recht pist Und ob du link pist ym rechten sere hinkest [25r] Ich sage vor ware / sich schoetzt keyn man ane vare hastu vornomen / czu slage mag her kleyne komen |
Hec{ce} sunt cautele(?) Erschrigkestu gern / kain fechten saltu nymmer ge lerne In deß vor und nach die swei ding / sind aller dinge on orspring In deß vor und nach / an ho[r]te dem krige sy nicht mach weß der krieg romet / oben unnden werd er beschemet hore waz da secht yst / ficht nicht lingk ab du recht bist und lingkest / in dem rechten ouch here hingkest Ich sage vor war / keyn man schutzit sich ane var hastuß vornomen / czu slage mag er kleine komen |
[37r] Czwey hengen werden / aus eyner hant von der erden [25v] haw krump czu flechen / den meistern wiltu sie swechen [27r] Twere czu dem pfluge / czu den ochsen herte gefuge [18v] Wer noch get hewen / der darf sich kunst kleyne frewen haw im was du wilt / keyn wechsler kawm an dein schild [32v] Vier sint vorsetczen / dy dy leger auch sere letczen Vorsetczen huet dich geschiet das auch sere muet dich Ab dir vorsatzt ist / und wy das dar komen ist hoere was ich rate / streich abe haw snel mete drate Setzt an vier enden / bleib droffe / lere wiltu enden Wer wol vorsetczit / ders vechten vil hewe letczit wen yn dy hengen / kumpstu mit vorsetczen behenden |
Von hengen Czwei hengen nyder van beyden handen uf von der erdin Wer sich vor dir zchucht abe / hauw snel daz daß er snabe hauw czu dem fleytin / den meyster wiltun in streichen hauw czuden phluge / zu den ochsen hartte . vuge fuge wer nach god hauwen / der sich kunst kleyne vreuwen haw und was du wilt / kein wesßeler kom an den schilt vier sind versztin / die dye legere ouch sere letzin Sectz an vir enden / blyb dar uf wiltu enden vorsetzen hut dich / geschiet daz sere muet dich Ist daz du vor satzt yß / Sich wy het da her komen yst Hore waß ich rate / strigh abe snel hauwe midde drate |
[33r] Nochreisen lere / czwefach ader sneit in dy were [37r] Sprechfenster mache / stant froelich sich syne sache [23r] In allen winden hewe stiche snete lere finden [29v] Und pruefe dy ferte / ab sy sint weich aber herte ([29v] Wert her so czucke / stich wert her io czu ym ruecke) [25v] Wen is klitzt oben / stant abe das wil ich loben [34r] Wer auf dich sticht / dyn ort trift und seynen bricht [25r] Wiltu dich rechen / vier bloessen kunstlichen brechen Oben duplirer do neden rechten mutire Wer bloessen wisse remen zo slestu gewisse [35v] Durchlawff loz hangen mit dem knauf / greif wiltu rangen |
Nach reysen lere / trid vorbas und snid in dy were Sprech fenstir mach / stand konlich sich syne sach Ane alle var / an twivel roye her gebar In allen winden / heuwe stiche snyte lerne vinden Daz saltu oben merken / ab dye leyger sint weych oder herte Czugke zrugket her zcugke me er be vint arbeyt die oin trid wessellir zcwifagh den alden snit midde mach ffellir wer de furt / von under nach wonsche rurt Czwifach furbaß / drid eyn hud und biß nicht laß kome iß glichtzet obene / So standet abe daz ger ich lobe wer uf dich stight / sine ord mit twere trift und bricht wiltu dich rechen / vier bloße konstlichen brechen Oben duplire / dar unden recht mutire vir bloße wiße / So slestu ge wisse llaß den ort hangen / Be griff den knauf wiltu midde rangen vier sind der snidde / Czwene unde czwene oben midden {etc.} Et sic est finis huius artis |
Unten auf der Seite folgt ein Gebet oder frommes Gedicht: Ich trete [h]ude uf de selben phad / da uns lieber here ihne vußß selber uf trad / der waz milde und gud / Geseyne mich hute / sin heyligen rosen varweß blut / und sin heylygen funf wunder / daz ich des geyden tudeß […]
Die Sprache ist “ostmitteldeutsch mit niederdeutschem Einschlag”, also geographisch ähnlicher Ursprung wie Hs. 3227a und überhaupt kompatibel mit einer “Meissener” Hypothese für die Entstehung der Liechtenauerschen Lehre.
“Beringos” Verse sind nicht nur in völlig anderer Reihenfolge als Liechtenauers, sie sind auch weniger ausführlich, und teilweise deutlich verderbt; in eingein Fällen offenbar durch mechanisches Kopieren (z.B. fleytin statt flechin und einzelne Doppelschreibungen); ihre Interpretation wird ganz davon abhängen, ob man bereit ist, ihnen Eigenständigkeit zuzugestehen (sind sie einfach eine Entstellung einer Auswahl an Liechtenauerschen Versen, oder darf man sie als unabhängige Überlieferung eines zentralen Kerns von Merkversen ansehen, der von Liechtenauer ausgebaut wurde?). In einzelnen Fällen könnte “Beringo” beim Verständis von Liechtenauers Versen helfen. Z.B. “von himel” ist deutlicher als “von dem tage”.
DAB 2014