Liutgers Fechtbuch (Liber de arte dimicatoria, Royal Armouries I.33), unsere älteste Quelle, datiert auf etwa 1340 bis 1360,[ref]Datierung nach Schriftduktus, mit grösserer Sicherheit: zweites oder drittes Viertel des 14. Jh. Vgl.: Leng (2008): “ca. 1320-1330”. Singman (1997, nach A. Lhotsky): um 1295; Krämer (1975), Hils (1985): frühes 14. Jh.; Ukert (1838) “15. Jh.” (sic, Druckfehler für 14. Jh.?)[/ref] und mw. das älteste Fechtbuch (schriftliche Darlegung einer Methode für den bewaffneten Kampf) weltweit.
Text, Übersetzung, Kommentar / Text, translation, commentary (pdf): schwertfechten.ch/pdf/i33.pdf
Zusammenfassung für den schnellen Überblick (pdf mit Bildern und Kurzbeschreibungen, nicht der volle Text): Register, Teil 1 (frusta 1-19), Teil 2 (frusta 20-41).
[toc]
Zur Handschrift
Vormals in der herzöglichen Bibliothek Gotha (dort Cod. Membr. I. no. 115), 1945 verschwunden und 1950 von Sotheby’s versteigert und von den Royal Armouries erworben, seit 1996 in Leeds aufbewahrt.
Gunterrodt (1579) schreibt, sein guter Freund Johannes Herwart von Würzburg, Gürtelmacher und Fechter, zu jener Zeit Fechtlehrer des Prinzen Johann Wilhelm von Sachsen (1530–1573), habe das Buch aus einem fränkischen Kloster mitgebracht, als er unter Markgraf Albrecht II. Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach diente, d.h. im Zweiten Markgrafenkrieg von 1552–1555.
Offenbar wurde die Handschrift also zweimal Kriegsbeute, einmal 1552 durch Johannes Herwart, als Albrecht II. Franken verwüstete, und ein zweites Mal im April 1945 (durch einen anonymen GI), als das U.S. VIII Corps Gotha erreichte.
Die Handschrift war im Privatbesitz von Johannes Herwart, der sie möglicherweise an seinen jüngeren Freund Günderrode vermachte. Günderrode selber starb vor 1618 in Padua; der unmittelbare Verbleib der Hs. ist nicht bekannt, aber später im 17. Jh. erscheint sie im Katalog der Gothaer Bibliothek.
Nur in der handschriftlichen Kopie seines Traktats fügt Günderrode den Kommentar ein, dass die “adligen Mönche”, die zweifellos die Autoren des “uralten Buches” seien, ein Mitglied der berühmten Familie de Albenslaiben erwähnten. Gemeint ist offensichtlich Alvensleben eine adlige Familie in der Mark Brandenburg (ursprünglich Ministerialien des Hochstifts Halberstadt mit Stammburg bei Bebertal/Haldensleben, Sachsen-Anhalt).
Dieser von Albenslaiben sei einer, “der die Methoden auszuüben pflegte” (rationibus probare solitus), wohl verstanden als “ein Fechter nach dieser Methode”, aber Günderrode paraphrasiert hier direkt aus der Hs., ille sub brachio non ducat aliquam plagam quod probat de albersleiben [oder: alkersleiben], per raciones quia partem superiorem attingere non potest, also etwa “aus der Hut unter dem Arm sollen keine Schläge geführt werden, wie der von Albensleiben empfiehlt, aus dem Grund, dass man die oberen Blössen nicht erreichen kann.” Nun ist hier zweideutig, ob hier der Rat im Sinne von oder aber entgegen der Meinung dieses von Albensleiben gegeben wird: “er soll, wie vom v. A. empfohlen, keine Schläge führen” oder aber “er soll keine Schläge führen, obwohl das der v. A. empfiehlt” (Skopusambiguität der Verneinung). Tatsächlich folgt Ukert offenbar der letzteren Lesung, wenn er sagt, mit Lutegerus und de Alkersleiben seien wohl zwei “gewöhnliche Fechtmeister” erwähnt (p. 140).
Lutegerus (Liutger) verstehen wir aber schon länger (nach einer Idee Franck CInatos) als Selbstnennung des Autors des Fechtbuchs. Mit demselben Recht kann man wohl auch unseren von Albensleiben (oder Alkersleiben) als “guten” Fechter einordnen (der den korrekten Rat gibt, ein Hieb aus der tiefen Hut zum Kopf sei sinnlos). Da der Name ohne jegliche Einführung oder Ehrbezeugung genannt wird, halte ich es für nicht unwahrscheinlich, dass wir hier auch, ein zweites Mal, eine Selbstnennung des Autors haben, der damit als Liutger von Alkersleiben (oder doch von Albensleiben?) zutage träte.
Albensleiben oder Alkersleiben?
Für Günderrode ist die Lesung von Albenslaiben offensichtlich, er erkennt darin “den uralten Stamm und die hochberühmte Familie” (vetustissima prosapia et clarissima familia) von Alvensleben.[ref]angeblich eines heidnischen Sachsen namens Alvonis, der im 6. Jh. “zum Ritter geschlagen” worden sei; der erste historische Graf Alvo lebte immerhin im 9. Jh. (Adels-Lexicon (1836))[/ref]
Ukert ist näher am Schriftbild mit seiner Lesung de Alkersleiben. Damit hätten wir es nicht mit einer Brandenburger Adelsfamilie zu tun, sondern mit dem Dorf Alkersleben[ref]Alkersleben (Alkoldsleibin) von einem PN Alkold ( Alahold, Alahoald vel. sim.), Alvensleben wohl von Albin o. Albuin (-laibe(n) = “Erbe”, zu bleiben)[/ref] in Thüringen (damals von einiger Wichtigkeit, mit Rittergut und Dekanat), im 13. Jh. erwähnt als Alkesleibin).[ref]Die Ritter von Alkersleben sind für das 13. Jh. belegt: de Alkosleibin (1233), de Alkoldisleibin (1272), von Alkersleibin (1275). letztmalig 1304, Heinrich von Alkusleuben, danach ging der Besitz an die Ritter von Witzleben. (Wagner 2014)[/ref]
Das thüringische Alkersleben ist um die 130 km südlich vom Brandenburger Alvensleben/Haldensleben und gegen 200 km nördlich von den Gebieten Frankens, die vom Markgräfischen Krieg betroffen waren. Alkersleben wäre einfach der Geburtsort des (dann wohl nicht adligen) genannten Fechters. Albensleben (Alvensleben) würde dagegen bereits als Familienname verstanden (und nicht Geburts- oder Herkunftsort), der Name einer Sippe, die um 1300 mehrere Burgen in der Mark Brandenburg und dem Erzstift Magdeburg besitzt. Für Günderrode ist klar, dass der Verfasser des Buchs ein Adliger sein muss, der sich aufs Alter in ein Kloster zurückgezogen hat, und damit ist für ihn auch die Lesung des Namens der ihm vertrauten Adelsfamilie offensichtlich.
Allerdings ist der Lesung Alkersleiben klar der Vorzug zu geben vor Albensleiben; während bei der Lesung des k als b noch Unsicherheit bestehen könnte, ist das r sehr klar geschrieben und nicht als n lesbar.
Die Handschrift entstand um 1300 und lag 1550 in einem fränkischen Kloster. Da sie von einem Mönch (oder doch wenigstens Priester, sacerdos) verfasst wurde, ist die Annahme plausibel, dass sie für zweieinhalb Jahrhunderte im dem Kloster blieb, in dem sie entstanden war. Zu den Namen Liutger und de Alkersleiben gesellt sich nur noch ein weiterer Eigenname, nämlich Walpurgis, eingetragen offenbar im Scherz als Name der Fechterin auf den zwei letzten Seiten. Die Verbindung der Begriffe “Liutger”, “Walpurga” und “fränkisches Kloster” evoziert sofort das Kloster St. Walburg in Eichstätt: gestiftet 1035 von Liutger von Lechsgmünd, Ruheplatz der Gebeine der heiligen Walpurga. Der “Scherz” (nicht notwendigerweise des Autors, sondern möglicherweise von Zeichner und Schreiber) bestünde also darin, dass suggeriert wird, in den Abbildungen der letzten beiden Seiten föchten der Gründer und die Patronin des Klosters miteinander. Eichstätt lag zur Zeit Günderrodes im südlichsten Teil des Fränkischen Reichskreises. Der Feldzug von Albrecht Alcibiades 1552 richtete sich gegen die katholischen Hochstifte (zu denen Eichstätt gehörte), verlief aber von Bayreuth aus eher gegen Westen, betroffen waren Würzburg, Mainz, Trier, Speier; ganz zu Beginn des Krieges belagerte er auch Nürnberg und verwüstete das Umland. Eichstätt liegt etwa 40 km südlich von Nürnberg.
Fechtterminologie
Deutsch
Der Text der Handschrift enthält zehn deutsche Fechtbegriffe (als Fachbegriffe im lat. Text unübersetzt belassen): durchtrit/durchtreten, halpschilt, krucke, langort, nucken, schiltslac, schutzin/schutzet, stich, stichslac, vidilpoge.
Dabei ist stich scheinbar die genaue Entsprechung von fixura (kein Hinweis auf eine technische Bedeutung, die speziell dem unübersetzten Begriff zukäme). Von den anderen Begriffen treffen wir alleine den Langort wieder in der Fechtterminologie Liechtenauers (sonst Durchlaufen in etwas anderer Bedeutung und sich schützen im allgemeinen Wortsinn, im Fechten aus den Nach). Fiedelbogen, Krücke, Halbschild, Langort und Schützen sind defensive oder vorbereitende Fechtpositionen, Durchtritt, Nucken, Schildschlag, Stich und Stichschlag sind offensive Aktionen. Leider lassen sich an diesen zehn Wörtern kaum dialektale Merkmale feststellen, so dass es für mich nicht möglich ist zu entscheiden, ob diese Handschrift, bzw. ihr Schreiber, tatsächlich als “süddeutsch” (und nicht etwa mitteldeutsch) einzuordnen ist. Allenfalls: lexikalisch ist nucken “nicken” eher mitteldeutsch; vielleicht auch mitteldeutsch die Anlautverhärtung in poge (vgl. Porsche für Bursche). Das sind nicht durchschlagende Argumente, aber ich sehe keinen Grund, der dagegenspräche, dass der Schreiber nicht vielleicht auch mitteldeutscher Herkunft gewesen sein könnte.
Lateinisch
Deutlich in technischer Bedeutung sind benutzt custodia, obsessio/obsesseo/obsessor (var. possessione/possessor), ligatio/ligatura/ligans/ligatus, (subligacio/subligatum/subligatur, religatus/religacio, einmal allegatio), calcat. Zu diesen Begriffen lässt sich mutmassen, welchen deutschen Begriff sie jeweils übersetzen dürften. Für custodia ist das wahrscheinlich huote “Hut” (eine somit indirekt erschlossene terminologische Kontinuität zur Terminologie Liechtenauers); ligatio/ligatura ist “Band”, religatio (soweit kontrastiv verwendet) vielleicht “Anbinden”; calcat bezieht sich auf Schrittarbeit, vielleicht treten oder schreiten; obsessio ist schwer zu fassen, zumal eine genaue Entsprechung des Konzepts in den Fechtlehren der Renaissance fehlt, vielleicht besetzen.
Der Übergang zwischen termini technici zu einfach in fechterischem Zusammenhang im Wortsinn benutzten Wörtern ist fliessend, aber folgende Begriffe würde ich als einfach aus dem regulären Lexikon bezogen einordnen: gladius & scutum (Schwert und Schild), plaga “Schlag” (slag, oder”Hau”, mhd. aber kaum bezeugt), fixura “Stich”, intrare, invadere “eintreten, einlaufen”, luctacio/luctare “Ringen”, ludus “das Spiel”, percutit/percutiatur/percutiens “schneiden”, ducit/perducit “(eine Aktion) ausführen”, (re)sumitur, (se) ponere “(eine Haltung/Hut) einnehmen”, recipere “(Gelegenheit) erhalten”, separatio “Trennung”, sequi/sequitur “(ver)folgen”, seducuntur “verführen”, specificatum “besonders”.
Dazu mit oppositum/medium[ref]LSJ: medium, n. ” the middle, midst, interval; the midst of all”; du Cange: “ratio, argumentum”; LSJ: oppositus m. “a placing or setting against, an opposing; a placing or laying before, an interposition, intervention; a citing or bringing forward against”; du Cange opponere: “contra argumentari”.[/ref] zwei Begriffe, die offenbar in spezialisierter Bedeutung verwendet werden, aber nicht im erklärenden Text, sondern nur in dem einen Vers Oppositum clerus mediumque tenet lutegerus. An der genauen Bedeutung dieses Verses rätsle ich seit zehn Jahren herum. “Das Gegenteilige und das Mittlere hält der Kleriker Liutger”. Eindeutig ist mit dem “Gegenteiligen” und “Mittleren” ein Aspekt der Fechtlehre gemeint, aber geht es um abstrakte Begriffe wie “das Gegenmittel” (gegen andere Fechter), “die Mittel und Wege”, oder ganz konkret um die Geometrie des Fechtens? Vielleicht ist eine Zweideutigkeit beabsichtigt: “Der Mönch Liutger hat das Argument und das Gegenargument” und auch: “Der Mönch Liutger hält dagegen, und er hält das Zentrum”.
Quellen
- Henricus a Gunterrodt, De Veris Principiis Artis Dimicatoriae, 1579.
- Friedrich August Ukert, Beiträge zur ältern Litteratur, 1838, 138-141.
- Rainer Leng, “Fecht- und Ringbücher”, Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters, Bd. 4/2, 2008, 38.9.8.
- Franck Cinato und André Surprenant, Le Livre de l’art du Combat: Liber de arte dimicatoria. Édition critique du Royal Armouries MS. I.33, CNRS Editions, 2009.
- Heidemarie Bodemer, Das Fechtbuch, Diss. Stuttgart, 2008, 83-101.
- Wikimedia Commons, Royal Armouries Ms. I.33 (Farbscans von royalarmouries.org, 2004)
- Jeffrey L. Forgeng, The Medieval Art of Swordsmanship: A Facsimile & Translation of Europe’s Oldest Personal Combat Treatise, Royal Armouries MS I.33, Chivalry Bookshelf, 2003.
- Extraordinary Editions, The Illuminated Fightbook (Faksimile für GBP 750), 2012.
- R. Warzecha und T. Wenzel, Mittelalterlicher Kampf mit Schwert & Schild (DVD), 2011; Roland Warzecha / Dimicator, youtube channel.
- Herbert Schmidt, Schwertkampf Band 2, Wieland Verlag, 2008.